Zwischen Fortschritt und Fetisch: Warum neue Methoden oft mehr schaden als helfen

Zwischen Fortschritt und Fetisch: Warum neue Methoden oft mehr schaden als helfen
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Summary

Ein Plädoyer gegen die gedankenlose Anwendung von Frameworks, Methoden und Technologien.
Warum Agilität, Holokratie und KI keine Heilsbringer sind – und weshalb das „Warum“ wichtiger bleibt als jedes „Wie“.

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Der Reiz des Neuen

Neue Ideen, Konzepte und Methodiken zur Verbesserung von Unternehmen und Arbeitsprozessen entstehen beinahe im Wochentakt.
Kaum ein Jahr vergeht, ohne dass eine neue Technologie oder Managementphilosophie verspricht, die Probleme des Business ein für alle Mal zu lösen.

Agilität (SCRUM, SAFe), Holokratie, demokratische Unternehmensführung, Big Data, Cloud, Künstliche Intelligenz – die Liste ist lang und wächst stetig.

Zunächst ist all das begrüßenswert: Stillstand ist schließlich der sicherste Weg in die Bedeutungslosigkeit.
Ohne den stetigen Fluss neuer Impulse und Denkansätze wäre Anpassung – und damit unternehmerischer Erfolg – langfristig unmöglich.

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Das eigentliche Problem: Wie Neues angewendet wird

Die Schwierigkeit liegt nicht im Neuen selbst, sondern in seiner Umsetzung.
Innovation wird dann problematisch, wenn sie losgelöst vom konkreten Kontext eingeführt wird – von der tatsächlichen Aufgabe, der sie dienen soll.

Hier offenbart sich ein grundlegendes Missverständnis moderner Businesskultur, die sich in zwei Glaubenssätzen verdichtet:

  1. Schneller! (Oder genauer: Busy, busy, busy!)
  2. Skalieren! (Immer und überall!)

Der erste Imperativ führt dazu, dass kaum jemand zu Ende denkt.
Alfred Herrhausen brachte es einst auf den Punkt:

„Die meiste Zeit geht dadurch verloren, dass man nicht zu Ende denkt.“

Der zweite Imperativ zwingt zur Standardisierung, um überhaupt skalieren zu können – oft auf Kosten des individuellen Denkens.

Und natürlich hat diese Haltung auch ökonomische Ursachen:
Frameworks wie SCRUM oder SAFe sind längst selbst Geschäftsmodelle.
Ihre Marken sind geschützt, ihre Zertifikate skalierbar – Weiterbildung wird zum Produkt.

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Vom Werkzeug zur Ideologie

So löst sich die ursprüngliche Intention vieler Methodiken vom Kontext, in dem sie entstanden sind.
Fast alle dieser Konzepte waren deskriptiv – sie beschrieben, wie etwas in einem konkreten Unternehmen funktionierte.
Durch den wirtschaftlichen und kulturellen Druck, alles zu standardisieren, wird daraus schnell ein normatives System:
Was in einem Setting funktioniert hat, soll plötzlich überall gelten.

Adorno sagte einmal:

„Kunst ist die Kenntnis der Standards – plus Abweichung.“

Wird nur der Standard gelehrt, ohne die Abweichung, ohne das Bewusstsein für Kontext, entsteht der „One-Size-fits-all“-Effekt.
Für jemanden mit einem Hammer sieht eben alles wie ein Nagel aus.

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Wenn das „Warum“ verschwindet

In dieser Dynamik verschiebt sich der Fokus.
Das „Warum“ tritt in den Hintergrund – Methoden werden zu Ideologien.
Und ideologisch motiviertes Handeln ist immer gefährlich: Es spaltet, es zerstört Dialog, es lenkt von der eigentlichen Aufgabe ab.

An die Stelle lösungsorientierter Diskussionen treten Glaubenskriege.
Das Unternehmen beschäftigt sich nicht mehr mit seinen Kunden oder seiner Wertschöpfung – sondern mit sich selbst.

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Fazit

Methoden, Frameworks und Technologien sind Werkzeuge – nicht Weltanschauungen.
Sie entfalten ihren Wert erst dann, wenn sie kontextbewusst eingesetzt werden:
nicht als Heilsversprechen, sondern als temporäre Antwort auf eine konkrete Herausforderung.

Fortschritt entsteht nicht durch das blinde Folgen von Trends,
sondern durch das Denken in Zusammenhängen
und den Mut, im Einzelfall abzuweichen.

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Empfohlene Lektüre

  • Herrhausen, Alfred: Reden und Schriften – Gedanken eines Bankiers
  • Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie
  • Laloux, Frederic: Reinventing Organizations
  • Seddon, John: Freedom from Command and Control