Was das Business von der Physik lernen kann

Was das Business von der Physik lernen kann
Photo by Andrew George / Unsplash

Einleitung

Seit einigen Jahren beschäftigt mich ein Thema, das eigentlich schon während der Gründung meines ersten Unternehmens in mir gärte – ich hatte nur keine Zeit, es zu durchdenken, weil ich „arbeiten“ musste.

Heute, mit drei Jahrzehnten Erfahrung, erscheint mir die Diskussion über Arbeit, Leistung und Effizienz notwendiger denn je.
Besonders seit der Äußerung unseres „geschätzen“ Bundeskanzlers Friedrich Merz:

„Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten.“

Dieser Satz ist ein Katalysator. Er bündelt viele diffuse Narrative der Gegenwart: Fleiß, Verantwortung, Produktivität – und ein tiefes Missverständnis darüber, was Arbeit eigentlich ist.
Ich möchte deshalb den Versuch wagen, dieses Thema aus einer ungewohnten Perspektive zu beleuchten: physikalisch statt betriebswirtschaftlich.

Denn während die Betriebswirtschaftslehre bis heute um ihren Wissenschaftsstatus ringt, ist die Physik eine echte Naturwissenschaft.
Und das Schöne daran: die zugrundeliegenden Prinzipien hat fast jeder in der achten Klasse gelernt.

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1. Arbeit und Leistung – physikalisch betrachtet

Arbeit (W) ist in der Physik definiert als:

  • F steht für Kraft – die Ursache von Bewegungsänderungen.
  • s bezeichnet den Weg, über den diese Kraft wirkt.

Leistung (P) wiederum ist die pro Zeit verrichtete Arbeit:

Damit ergibt sich eine klare Logik:

  • Kraft × Weg = Arbeit
  • Arbeit / Zeit = Leistung
  • Geschwindigkeit verbindet Weg und Zeit

Oder, etwas alltagstauglicher formuliert:
Je mehr Kraft man über eine Strecke aufwendet, desto mehr Arbeit entsteht.
Und je schneller man sie verrichtet, desto größer die Leistung – aber nur bis zu einem Punkt.

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2. Zeit und der Denkfehler im Leistungsdiskurs

Wenn Politiker fordern, „wir müssen wieder mehr arbeiten“, dann beziehen sie sich fast immer auf die Zeitkomponente:
mehr Stunden, längere Lebensarbeitszeit, höhere Wochenstunden.

Physikalisch ist das Unsinn.
In der Formel für Arbeit kommt Zeit gar nicht vor.
Mehr Zeit bedeutet nicht automatisch mehr Arbeit.
Sie erhöht lediglich den Nenner in der Formel für Leistung:

Und wenn der Nenner größer wird, sinkt der Bruchwert – also die Leistung.
Mehr Zeit allein führt also zu weniger Leistung, wenn Kraft und Weg konstant bleiben.

Der Satz „länger arbeiten“ ist also bestenfalls eine rhetorische Beruhigungspille, schlimmstenfalls ein mathematischer Irrtum.

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3. Grenzen menschlicher Kraft und Geschwindigkeit

Natürlich kann man dem entgegenhalten:
Dann setzen wir eben mehr Kraft ein oder legen mehr Weg zurück.

Das Problem:
- Menschliche Kraft ist limitiert.
- Geschwindigkeit ist nur bedingt steigerbar.
- Und Wissensarbeit – der wachsende Anteil moderner Arbeit – lässt sich ohnehin nicht skalieren.

Zudem steigt mit der Belastung die Fehlerquote exponentiell.
Korrekturarbeit ist in diesem Bild „Nicht-Arbeit“ – sie kostet Kraft, bringt uns aber keinen Millimeter voran.

Wir kennen das Phänomen: Menschen, die permanent „busy“ sind, aber kaum Wirkung entfalten.
Sie sprinten über die Oberfläche ihrer Aufgaben wie ein Schnellboot über die Gischt – schnell, laut, aber ohne Tiefe.
Geschwindigkeit ersetzt Wirkung nicht.

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4. Effizienz, Effektivität und der Winkel der Verschwendung

Bleiben wir kurz bei der Physik.
Die vollständige Formel für Arbeit lautet:

Der Faktor cos(α) beschreibt, wie stark die Kraft tatsächlich in die gewünschte Richtung wirkt.
Übertragen auf die Arbeitswelt heißt das:
Je mehr Energie auf das richtige Ziel gerichtet ist, desto höher der Wirkungsgrad.

Viele arbeiten mit voller Kraft – aber in die falsche Richtung.
Das ist das eigentliche Problem der modernen Arbeitskultur:
Wir optimieren Prozesse, ohne sicher zu sein, ob sie überhaupt zum Ziel führen.

Und das darüber nachdenken, wohin man eigentlich mit dem Unternehmen will, ist gerade nicht en vogue, oder wie es der COO eines Unternehmens neulich mir gegenüber ernsthaft formulierte, das sei ja, Achtung:“total Nineties.“ So zu denken.

Ich fühlte mich letztendlich geehrt, als ich aus meiner konsternierten Schockstarre wieder erwachte.

Michael Porter brachte es auf den Punkt:

„The essence of strategy is choosing what not to do.“

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5. Die Illusion unbegrenzter Steigerbarkeit

Die Möglichkeiten, Effizienz zu steigern, sind real – aber begrenzt:
- mehr Arbeit in gleicher Zeit,
- gleiche Arbeit in kürzerer Zeit,
- oder mehr Arbeit in kürzerer Zeit.

Alle drei Varianten stoßen jedoch an physiologische, psychologische und technologische Grenzen.
Und: Sie alle setzen Zeit als Kernvariable.

Aber Zeit ist keine Ressource, die man vermehren kann –
sie ist die einzige, die unwiderruflich verbraucht wird.

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6. Reframing: Arbeit als Energie, nicht als Zeitverbrauch

Wenn wir also ernsthaft über Produktivität sprechen,
müssen wir uns von der Idee lösen, dass „mehr Zeit“ = „mehr Arbeit“ bedeutet.
Die physikalische Perspektive lehrt uns:
Wirkliche Arbeit entsteht nur dort, wo gerichtete Kraft auf eine sinnvolle Strecke wirkt.

Damit gewinnen drei Fragen an Bedeutung:

  1. Wohin richtet sich unsere Kraft?
  2. Wie viel davon ist tatsächlich wirksam?
  3. Wie erhalten wir diese Kraft langfristig?

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7. Von der individuellen zur systemischen Effizienz

Das Potenzial, Deutschland oder Europa „wettbewerbsfähiger“ zu machen,
liegt nicht in längeren Arbeitszeiten oder höherem persönlichen Energieeinsatz.
Es liegt in der systemischen Optimierung:

  • bessere Nutzung vorhandener Kompetenzen,
  • konsequente Automatisierung repetitiver Tätigkeiten,
  • Priorisierung von Innovation und Kreativität,
  • und eine Arbeitskultur, die Sinn, Fokus und Erholung nicht als Luxus, sondern als Voraussetzung von Leistung begreift.

Effizienz darf nicht bedeuten, den Menschen weiter zu verdichten,
sondern Systeme so zu gestalten, dass weniger Kraft mehr Wirkung erzielt.

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8. Beschäftigung neu denken

Das heißt auch, dass wir uns von der Idee verabschieden müssen,
dass der Beschäftigungsgrad ein sinnvoller Indikator für Wohlstand ist.
Er war es in der Industriegesellschaft,
aber er verliert in der Wissensökonomie seine Relevanz.

Wenn Automatisierung und KI Routinearbeit übernehmen,
wird das Ziel nicht sein, alle zu „beschäftigen“,
sondern allen Teilnahme am Systemwert zu ermöglichen.

Das erfordert ein neues Verhältnis von Arbeit, Einkommen und gesellschaftlichem Beitrag.
Nicht mehr jeder, der arbeitet, schafft Wert –
und nicht jeder, der Wert schafft, ist beschäftigt.

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9. Schlussfolgerung

Wir überschätzen unseren Einfluss auf die reine Arbeitsleistung –
und unterschätzen unseren Einfluss auf die Rahmenbedingungen,
unter denen Leistung überhaupt entstehen kann.

Wir können nicht unbegrenzt länger oder schneller arbeiten,
aber wir können zielgerichteter, intelligenter und nachhaltiger arbeiten.

Das bedeutet:

  1. Arbeit als begrenzte Ressource anerkennen – körperlich, psychisch, gesellschaftlich.
  2. Automatisierung und KI nutzen, um Menschen von nicht-wertschöpfenden Tätigkeiten zu befreien.
  3. Ein Umfeld schaffen, in dem Menschen arbeiten können, ohne ihr Leben zu opfern.

Am Ende zeigt die Physik:
Leistung ist keine Frage der Zeit, sondern der Richtung und des Wirkungsgrades.
Wer das verstanden hat, muss nicht härter arbeiten –
sondern klüger.

Literatur (Auswahl)
  • Coase, R. H. (1937). The Nature of the Firm. Economica, 4(16), 386–405.
  • Han, B.-C. (2010). Müdigkeitsgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz.
  • Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • Porter, M. E. (1996). What is Strategy? Harvard Business Review, 74(6), 61–78.
  • Sen, A. (1999). Development as Freedom. Oxford University Press.
  • Simon, H. A. (1962). The Architecture of Complexity. Proceedings of the American Philosophical Society, 106(6), 467–482.