Gesellschaftliche Dienlichkeit und die Neuinterpretation der Transaktionskostentheorie

Gesellschaftliche Dienlichkeit und die Neuinterpretation der Transaktionskostentheorie
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1. Ausgangspunkt

Das gegenwärtige Wirtschaftsverständnis ist in seiner Logik erstaunlich schlicht – und genau das ist das Problem.
Es beruht auf der Annahme, dass Unternehmen primär dazu da sind, Gewinne zu erzielen, und dass diese Gewinne Ausdruck von wirtschaftlichem Erfolg und gesellschaftlichem Nutzen zugleich seien.

Diese Gleichsetzung ist trügerisch.
Sie ignoriert, dass Unternehmen längst in einer Umwelt agieren, in der die rein ökonomische Logik zunehmend in Widerspruch zu gesellschaftlicher Stabilität steht.
Eine Ökonomie, die Armut produziert, während sie Reichtum feiert, und soziale Spaltung vertieft, während sie Effizienz predigt, unterminiert ihre eigene Legitimität.

Unternehmen sind keine eigenständigen Wesen, die über der Gesellschaft stehen, sondern institutionalisierte Ausdrucksformen gesellschaftlicher Organisation.
Sie existieren, weil sie Aufgaben übernehmen, die für das Funktionieren des Ganzen notwendig sind – etwa Versorgung, Innovation, Sicherheit oder Beschäftigung.
Ihr Gewinn ist kein Ziel, sondern ein Feedback-Signal: eine Rückmeldung darüber, wie effizient sie ihre gesellschaftliche Aufgabe erfüllen.

2. Die Transaktionskostentheorie als Fundament

Ronald Coase und später Oliver Williamson beschrieben Unternehmen als Antwort auf Koordinationsprobleme.
Immer dann, wenn die Abstimmung wirtschaftlicher Aktivitäten über den Markt zu teuer, zu unsicher oder zu aufwändig wird, entstehen Organisationen, die diese Transaktionen intern koordinieren – also Unternehmen.

Diese Idee lässt sich erweitern.
Wenn man nicht nur Markt und Unternehmen, sondern die gesamte Gesellschaft betrachtet, wird deutlich:
Unternehmen entstehen und bestehen, weil sie kollektive Aufgaben effizienter lösen, als es Individuen oder staatliche Strukturen allein könnten.
Sie senken nicht nur ökonomische, sondern auch gesellschaftliche Transaktionskosten – die Kosten des Miteinanders, des Vertrauens, der Organisation von Arbeitsteilung.

Damit wird die Transaktionskostentheorie zu einem Instrument, das gesellschaftliche Effizienz beschreibt.
Wirtschaftliche Effizienz ist nur dann legitim, wenn sie zugleich gesellschaftliche Dienlichkeit erzeugt.

3. Die Wirtschaft als Herz-Kreislaufsystem der Gesellschaft

Gesellschaft ist ein lebender Organismus.
Ihre Organe sind Individuen, Institutionen und Organisationen.
Ihre Nervenbahnen sind Kommunikation, Recht und Kultur.
Und ihr Kreislauf ist die Wirtschaft – der Mechanismus, der Ressourcen, Energie und Informationen zirkulieren lässt.

Ohne Kreislauf kein Leben.
Aber der Kreislauf ist kein Selbstzweck.
Er existiert, um die Versorgung, Regeneration und Stabilität des Ganzen zu sichern.

Wenn die Wirtschaft – wie ein Herz, das nur noch für sich schlägt – beginnt, Ressourcen zu horten statt sie zu verteilen, dann stirbt der Organismus.
Die Entkopplung wirtschaftlicher Logik von ihrer gesellschaftlichen Funktion gleicht einem pathologischen Zustand:
Wachstum ohne Versorgung, Profit ohne Richtung, Bewegung ohne Ziel.

Die Wirtschaft ist der Blutkreislauf der Gesellschaft – notwendig, vital, aber niemals Souverän.
Sie dient dem Leben, sie ist nicht das Leben selbst.

Eine gesunde Wirtschaft verhält sich wie ein gut reguliertes Herz-Kreislaufsystem:
Sie hält den Fluss in Gang, gleicht Überhitzungen aus, beseitigt Blockaden und versorgt alle Teile des Systems bedarfsgerecht.
Die gesellschaftliche Dienlichkeit ist ihre Homöostase – die Fähigkeit, sich selbst zu regulieren, um das Ganze im Gleichgewicht zu halten.

4. Gewinn als Rückmeldung, nicht als Zweck

In dieser Logik ist Gewinn kein Selbstzweck.
Er ist ein Signal dafür, dass eine Organisation ihren gesellschaftlichen Zweck effizient erfüllt.
Doch wenn ein Unternehmen zwar Gewinne erzielt, aber dabei gesellschaftliche Spaltung, ökologische Schäden oder soziale Instabilität erzeugt, dann zeigt sein Erfolg nicht Effizienz, sondern Dysfunktionalität an.

Das gegenwärtige System belohnt genau diese Dysfunktionalität.
Es honoriert kurzfristige Profitabilität, auch wenn sie langfristige Kosten für Gesellschaft und Umwelt erzeugt.
Das ist die funktionale Entkopplung von Wirtschaft und Gesellschaft – der Punkt, an dem ein Teilsystem seine Eigenlogik absolut setzt und die Rückbindung an den Gesamtzweck verliert.

Eine solche Ökonomie ist effizient, aber nicht intelligent.

5. Gesellschaft als System zur Existenzsicherung und Stabilisierung

Gesellschaft ist keine abstrakte Idee, sondern das menschliche Schutzsystem gegen die Unwägbarkeiten des Lebens.
Sie dient der Sicherung von Existenz, Würde und Frieden.
Wirtschaft wiederum ist das operative Teilsystem, das diese Sicherung materiell ermöglicht: durch Arbeit, Produktion, Versorgung, Infrastruktur und Wohlstand.

In modernen Gesellschaften steht die Wirtschaft allerdings zunehmend vor einer paradoxen Aufgabe.
Sie soll nicht nur Angst und Unsicherheit reduzieren, sondern auch die Folgen einer bereits angstgetriebenen Gesellschaft kompensieren:
Spaltung, Aggression, Misstrauen – das permanente „Wir gegen die“, das unsere Diskurse, unsere Politik und unsere Arbeitswelt durchzieht.

Eine dienliche Wirtschaft stabilisiert, indem sie diese Dynamiken entschärft.
Sie fördert Vertrauen, Teilhabe und Verlässlichkeit.
Sie betrachtet gegenseitige Abhängigkeit nicht als Schwäche, sondern als Grundlage kollektiver Stärke.
Das ist ihr eigentlicher gesellschaftlicher Auftrag – und ihr Legitimationskern.

6. Gesellschaftlicher Beitrag als Steuerungsgröße

Wenn man diesen Zusammenhang ernst nimmt, ergibt sich eine klare Konsequenz:
Gesellschaftliche Dienlichkeit muss zum zentralen Steuerungskriterium ökonomischer Aktivität werden.

Unternehmen und Vermögensmassen sollten nach ihrem gesellschaftlichen Beitrag bewertet und besteuert werden.
Nicht das bloße Einkommen, sondern die gesellschaftliche Wirkung entscheidet über die Höhe der Abgaben.
Je höher die tatsächliche Dienlichkeit, desto geringer die steuerliche Belastung.

Ein solches System würde die Rückkopplung zwischen ökonomischer Effizienz und gesellschaftlicher Stabilität wiederherstellen:

  • Unternehmen würden nicht mehr bloß nach Kapitalrendite, sondern nach gesellschaftlicher Resonanz beurteilt.
  • Gewinn wäre nicht mehr Endziel, sondern Nebenprodukt gesellschaftlicher Relevanz.
  • Wirtschaftliche Macht würde an gesellschaftliche Verantwortung gebunden.

7. Die Forschungsfrage: Wie misst man gesellschaftliche Dienlichkeit?

Hier liegt der eigentliche Knackpunkt.
Wie lässt sich gesellschaftliche Dienlichkeit erfassen, ohne sie in moralische Appelle oder unpraktische Idealismen zu verwandeln?

Ein möglicher Ansatz wäre die Entwicklung eines Dienlichkeitsindex – einer Metrik, die verschiedene Dimensionen integriert:

  • Soziale Kohäsion: Trägt das Unternehmen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei?
  • Beschäftigung & Bildung: Schafft es Chancen oder zerstört es sie?
  • Ökologische Nachhaltigkeit: Senkt es langfristige Risiken für Umwelt und Gesundheit?
  • Innovationsbeitrag: Fördert es gesellschaftlichen Fortschritt oder erschöpft es bestehende Ressourcen?
  • Resilienz: Stärkt es die Fähigkeit der Gesellschaft, Krisen zu überstehen?

Dieser Index wäre keine moralische Bewertung, sondern ein funktionales Maß gesellschaftlicher Systemstabilität – ein Indikator für Legitimität im eigentlichen Sinne des Wortes.

8. Eine neue Legitimitätsordnung

Das Ziel ist keine moralische Utopie, sondern eine funktional-ethische Kohärenz:
Ein Wirtschaftssystem, das seine gesellschaftliche Funktion erkennt und institutionell sichert.

Unternehmen wären dann nicht länger Privatinteressen, die öffentliche Güter nutzen,
sondern gesellschaftliche Werkzeuge, die Wirtschaft als Mittel einsetzen, um kollektive Aufgaben zu erfüllen.

Damit verschiebt sich die Perspektive:

Nicht Gesellschaft dient der Wirtschaft, sondern Wirtschaft dient der Gesellschaft.

Eine Wirtschaft, die Angst, Spaltung und Misstrauen nicht vergrößert, sondern reduziert,
die menschliche Würde nicht als Kostenfaktor, sondern als Produktivkraft begreift,
und die Legitimität nicht als PR, sondern als Systemvoraussetzung versteht –
eine solche Wirtschaft wäre nicht nur effizient, sondern zivilisiert.

9. Schlussgedanke

Unternehmen sind, im besten Sinn, soziale Technologien.
Sie übersetzen Kooperation in Handlungsfähigkeit.
Doch jede Technologie kann degenerieren, wenn sie ihren ursprünglichen Zweck vergisst.

Eine Wirtschaft, die Angst verstärkt, spaltet und verunsichert, ist kein Fortschritt, sondern Regression.
Eine Wirtschaft hingegen, die gesellschaftliche Transaktionskosten senkt – also Vertrauen, Stabilität und Teilhabe ermöglicht – ist die höchste Form von Effizienz, die wir erreichen können.

Gesellschaftliche Dienlichkeit ist damit kein moralischer Luxus,
sondern die physiologische Voraussetzung einer funktionierenden Zivilisation.

Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Theoretische Grundlagen – Ursprung der Effizienzlogik

Coase, Ronald H. (1937): The Nature of the Firm.
Economica, 4(16), 386–405.

Williamson, Oliver E. (1985): The Economic Institutions of Capitalism.
New York: Free Press.

2. Gesellschaftstheoretischer Rahmen – Wirtschaft als Teilsystem

Parsons, Talcott (1951): The Social System.
Free Press, Glencoe.

Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie.
Suhrkamp, Frankfurt am Main.

3. Institutionelle Legitimität – warum Organisationen bestehen dürfen

Meyer, John W. / Rowan, Brian (1977):
Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony.
American Journal of Sociology, 83(2), 340–363.

DiMaggio, Paul J. / Powell, Walter W. (1983):
The Iron Cage Revisited: Institutional Isomorphism and Collective Rationality.
American Sociological Review, 48(2), 147–160.

4. Normative und humanistische Erweiterungen

Polanyi, Karl (1944): The Great Transformation.
Boston: Beacon Press.

Sen, Amartya (1999): Development as Freedom.
Oxford University Press.

Ostrom, Elinor (1990): Governing the Commons.
Cambridge University Press.

5. Zeitgenössische Erweiterungen und Interdisziplinäre Anschlüsse

Felber, Christian (2010): Gemeinwohl-Ökonomie.
Deuticke Verlag, Wien.

Rosa, Hartmut (2016): Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung.
Suhrkamp, Berlin.

6. Gegenpositionen

Friedman, Milton (1970): The Social Responsibility of Business is to Increase its Profits.
The New York Times Magazine.

Hayek, Friedrich A. (1944): The Road to Serfdom.
Routledge.